Wie viel Lohn ist gerecht? Und was verdient mein Nachbar?
- Edvard von Sydow
- 16. Apr. 2013
- 6 Min. Lesezeit
Wie viel darf ein Topmanager verdienen? Und wie viel soll ein Arbeiter für eine Stunde mindestens erhalten? Europa debattiert zurzeit mit großem Eifer die Frage der gerechten Entlohnung von Arbeit. Mit der aufsehenerregenden Volksabstimmung in der Schweiz am 5. März, deren Ergebnis nicht zuletzt in Deutschland als Paradigmenwechsel wahrgenommen wurde, bekam die Diskussion über Vergütungsregelungen einen neuen Impuls. Einige Tage zuvor hatte das Europäische Parlament gemeinsam mit den Mitgliedstaaten eine vorläufige Vereinbarung geschlossen, die Bonusauszahlungen der Banken zu begrenzen. Die Höhe der Bonuszahlungen soll künftig nicht über dem Festgehalt liegen dürfen. Das Bankenzentrum Londons kritisierte den Beschluss sofort. Juristische Vertreter der Banken behaupten jetzt, dass eine solche Einschränkung des freien Markts gegen das Europarecht verstoße. Im Land der Gleichheit Auch in Schweden werden solche Vorschläge intensiv debattiert, aber das Thema ist weit weniger umstritten als z. B. in London. Schweden neigt historisch gesehen zur Homogenität und zur Nivellierung von sozialen Unterschieden, was zuletzt 2011 ein Bericht der OECD herausgestellt hat. Besonders die Steuern sind das Mittel, um Einkommensunterschiede auszugleichen (vgl Schweden aktuell 1/13). Der Studie zufolge verdienen die zehn reichsten Prozent der Bevölkerung in Schweden wie in Deutschland ungefähr sechsmal so viel wie die ärmsten zehn Prozent. Die Spreizung liegt zwar etwas unter dem Durchschnitt der OECD-Mitglieder, aber sie nimmt in beiden Ländern zu. Und dieser Trend wird in Schweden sehr kritisch gesehen. Seit dem Zusammenbruch der Lehman Brothers wurden die Vergütungen der Unternehmens¬spitzen auch in Schweden viel aufmerksamer in den Blick genommen als zuvor. In Schweden ist aber das Niveau der Spitzengehälter generell niedriger als in anderen Industrieländern. Als signifikantes Beispiel kann man die zwei Topverdiener Deutschlands und Schwedens vergleichen. VW-Chef Martin Winterkorn verdient etwa 14 Mio. Euro jährlich und ist damit einer der bestbezahlten Vorstandsvorsitzenden Europas. Die schwedische Entsprechung, Johan Malmquist, Vorsitzender des Medizintechnikfirma Getinge gelangt mit ungefähr 4 Mio. Euro jährlich nicht einmal in die Nähe von Winterkorn. Trotzdem vergeht heute kaum eine Woche in Schweden, ohne dass der Verdienst eines Unternehmenschefs in den Medien diskutiert wird. Im kleinen Schweden wäre ein Lohn wie der Winterkorns nicht öffentlich zu rechtfertigen. Doch auch in Deutschland stehen Topgehälter zunehmend in der öffentlichen Kritik. Im vergangenen Jahr wurden die Bezüge Winterkorns von 18 auf 14 Millionen Euro gesenkt, und das trotz sehr guter Konzernergebnisse. Eine große und demonstrative Gehaltskürzung, aber auch ein sprechendes Beispiel, wie unterschiedlich die Dimensionen in beiden Ländern sind. Aufgrund einer inhärenten Beschränkung der Schweden und eines nivellierenden Steuersystems haben die Gehälter, sogar bei den größten Unternehmen, nie an die internationale Spitzenebene angeschlossen. Banken im Fokus In den letzten fünf Jahren gerieten insbesondere die Vorstandsbezüge der vier großen schwedischen Banken in den Fokus. Hintergrund ist die Veränderung des Immobilienmarktes in den zurückliegenden 15 Jahren. Bis Anfang der 90er war Schweden ein Land mit einem ziemlich großen Anteil von Mietwohnungen, besonders in Stockholm und den anderen Großstädten. Seitdem ist die Eigentumsquote stark gestiegen. Gleichzeitig sind die Immobilienpreise, wie in vielen anderen europäischen Großstädten, geradezu explodiert. Sollten die Preise nicht mehr weiter steigen, wäre es heute für die Mehrzahl der Schweden, die in den Großstädten wohnen, ein unrealistisches Ziel, jemals mit der Abzahlung einer Eigentumswohnung oder eines Wohnhauses fertig zu werden. Viele Leute haben große Darlehen und hohe Zinskosten. Für die Banken ist das ein richtig gutes Geschäft. Dass dieses Geschäft hohe Gehälter für die Geschäftsführungen und Rendite für die Anteilseigner ergibt, nervt die Schweden, glaubt man den Medien, wie kaum etwas anderes. Chefs verhandeln individuell Was bei der Gehaltsverhandlung herauskommt, kann aber niemand selbst entscheiden, ob Fabrikarbeiter oder Vorstandsvorsitzender. Es gibt immer einen Übergeordneten, der die Entscheidung letztlich trifft, die man als Angestellter dann akzeptieren muss. Bei Managern wird der Lohn aber in der Regel in individuellen Verhandlungen entschieden. Man verhandelt dann mit seinem Chef, der im Auftrag der Firma die Verhandlung führt. Deswegen sind die Aufsichtsräte, als Vertreter der Anteilseigner, verantwortlich für die Gehälter der Betriebsführung und indirekt des ganzen Unternehmens. Das schwedische Modell Die meisten Arbeiter oder Angestellten aber sind Mitglied in einer Gewerkschaft. Deshalb werden jedes Jahr umfassende Verhandlungen zwischen Gewerkschafts- und Wirtschaftsvertretern durchgeführt, die meist, von außen betrachtet, ohne größere Schwierigkeiten ablaufen. Streikdrohungen sind zwar nicht ungewöhnlich, aber normalerweise wird ein Konsens erzielt, bevor es dazu kommt. In welcher Gewerkschaft man Mitglied ist, hängt natürlich von Ausbildungshintergrund und Beruf ab. Oft werden auch Nicht-Mitglieder von diesen Abreden umfasst. Es gibt sogar die Möglichkeit, nach den allgemeinen Tarifabschlüssen seinen Lohn noch zu verbessern, denn die Mehrheit der Arbeitgeber bietet auch persönliche Gehaltsgespräche. Eine Folge dieser Gespräche: Unterschiede im Lohn am gleichen Arbeitsplatz für die gleiche Arbeit sind nicht ungewöhnlich. In den Medien wird dieses Phänomen allerdings fast immer nur unter dem Aspekt von geschlechtsbedingten Unterschieden besprochen. Die Bedeutung der Gewerkschaften hat in Schweden eine lange Tradition. Das 20. Jahrhundert wurde von der sozialdemokratischen Partei und ihrem engen Partner, der Gewerkschaft „LO“, stark beeinflusst. Die Partei regierte ununterbrochen von 1936 bis 1976. Während dieses Zeitraums wurden auch Gewerkschaften, die nicht für Arbeiter waren, etabliert. „SACO“, die Zentralorganisation Schwedischer Akademiker, und „TCO“, die Zentralorganisation der Angestellten, sind, zusammen mit „LO“, die drei großen Dachorganisationen der schwedischen Arbeitsnehmer. Verhandlungspartner sind „Svenskt Näringsliv“, der private Arbeitsgeberverband, und „SKL“, die Entsprechung des öffentlichen Sektors. Dieses System und das Grundgefühl, dass man zusammen am stärksten ist, stützt die verbreitete Haltung, dass niemand für die gleiche Arbeit mehr als ein anderer verdienen soll. Wachsende Unterschiede im Einkommen sind darum für das schwedische Modell nicht ganz unproblematisch. Hohes Gehalt ist nicht alles Wie wichtig das Gehalt aber überhaupt ist, ist eine Frage, die sich infolge der weltwirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre immer mehr Personalabteilungen gestellt haben. Wenn Gelder gespart und Gehaltserhöhungen beschränkt werden müssen, müssen Arbeitgeber andere Wege finden, ihren Angestellten ihre Wertschätzung zu zeigen. Was aber an die stelle von immer mehr Geld treten könnte, ist noch unklar. In der heutigen Wirtschaftskultur ist eine Gehaltserhöhung für viele das Einzige, wodurch ein Arbeitgeber wirklich zeigen kann, dass er die eigene Arbeit honoriert. HR-Abteilungen suchen daher nach anderen Faktoren, auf die Menschen im Beruf Wert legen. Ein Report der schwedischen Consultingfirma „Wise Group“ von 2012 ergab, dass nicht das tatsächliche Einkommen, sondern die allgemeine finanzielle Situation des Haushalts ausschlaggebend für die Gehaltszufriedenheit sei. Die 5.000 Befragten fanden es wichtiger, stolz auf ihre Arbeit zu sein, als einen hohen Lohn bekommen. Neben einem guten Gesundheitszustand, der am wichtigsten ist, wollen Mitarbeiter die Aussicht haben, sich in ihrem Betrieb weiterentwickeln zu können. Sie wollen ihre Aufgaben als sinnvoll erleben - und die Arbeit soll ganz einfach Spaß machen. Schwedische Gruppenmentalität Die Rolle des Verdienstes ist aber trotzdem ein ständig präsenter Bestandteil des schwedischen Berufslebens. Die genaue Summe ist etwas Privates, über das man nicht mit anderen Menschen redet, oft auch nicht mit guten Freunden. Schweden fühlen sich am wohlsten, wenn sie das Gefühl haben, dass die Menschen in ihrer Umgebung, Nachbarn und Freunde, es ungefähr so gut wie sie selbst haben. Die meisten sind daher damit zufrieden, nach einem Mittelstandsleben zu streben. Aber ausdrücklich jemanden zu fragen, was er oder sie verdient, um sein Bild als Teil eines einheitlichen Zusammenhangs zu bestätigen, ist ein Tabu. Die Antwort auf diese Frage möchten aber insgeheim die meisten Schweden doch gerne wissen. Manchmal aber bieten sich Gelegenheiten, dieser spannenden Frage auf den Grund zu gehen, ohne gegen die sozialen Regeln zu verstoßen. Ein Beispiel für eine solche sozialkonforme Schnüffelchance ist es, als potenzieller Käufer zu öffentlichen Wohnungsbesichtigungen zu gehen, ohne das geringste Interesse daran zu haben, die Wohnung zu kaufen. Es ist einfach spannend, zu sehen, welche Bilder an den Wänden der Familie Svensson hängen, und welche Farbe ihr Sofa hat. Das sind kleine, aber für die Schweden wichtige Details. Dadurch dass es dort andere Menschen gibt, die dieselbe Sache machen, denn es ist ja eine öffentliche Wohnungsbesichtigung, wird ein sonst unannehmbares Betragen völlig akzeptabel. Daher ist es kein Zufall, dass die größte Zeitung Schwedens, die Boulevardzeitung Aftonbladet, die soziale Neugier befriedigt und immer wieder investigative Listen publiziert mit den Einkommen der reichsten Paare oder Haushalte, Männer oder Frauen, in der Nähe des Ortes, in dem die jeweilige Ausgabe verkauft wird. Im Land der Gleichheit hat Sozialneid durchaus einen festen Platz. In Deutschland undenkbar: die privaten Steuer- und Kreditdaten stehen prinzipiell zur Verfügung aller, es bedarf nur eines Anrufes beim Finanzamt „Skatteverket“, mit der Angabe der Personennummer oder des Namens des Erwünschten. Alle können Kreditdaten aller Menschen bestellen – einzige Ausnahmen sind der König und seine Familie. Man kann zwar seine Kreditdaten anonymisieren lassen, aber nie vollkommen verbergen. In der Realität bestellt aber fast keiner diese Daten und wahrscheinlich aus diesem Grund stellt kaum jemand in Schweden diese Möglichkeit infrage. Es gibt, anders als in Deutschland, ein großes Grundvertrauen zum Staat und zur Verwaltung. Weil man selbst nie das System missbrauchen würde, wird es, so denkt man, auch vermutlich niemand gegen einen nutzen, solange man nicht sehr wohlhabend ist. „Glaub nur nicht, dass wir über Dich nicht so einiges wissen“, lautet das 11. Gebot des skandinavischen Verhaltensmusters, des berühmten „Jantegesetzes“. Niemand ist somit sicher unter den wachsamen Augen des schwedischen Öffentlichkeitsprinzips. Da schwimmt man lieber mit im großen Strom.
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