Erotik des Lichts
- Admin
- 21. Aug. 2015
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In der Nacht wurden die Pfarrersleute von Gesang geweckt. So etwas war noch nicht vorgekommen. Der Gesang drang unten vom Hof herauf. Die Sonne stand über der Erde; die Möwen waren erwacht; es war drei Uhr. (Knut Hamsun, „Schwärmer“)

Wenn wir verreisen, suchen wir das, was uns zu Hause fehlt. Kein Wunder, daß die Verheißung von Sex und Erotik für nicht wenige zu den Entscheidungskriterien für ihre Feriendestination zählt. Südliche und östliche Zielgebiete haben unter denen, die Aktivurlaub in diesem Sinne definieren, ganz klar die Nase vorn. Zu Unrecht, wie wir meinen. Denn der Norden stimuliert durch Aphrodisiaka, die Balearensklaven missen müssen: frische, würzige Luft und eine 24stündige prickelnde Lichtdusche, die den Körper in einen regelrechten Dauerrausch zu versetzen vermag. Jetzt war es Frühling, und Rolandsen mußte eine Liebste haben; es war nicht leicht, ein so großes Herz zu bändigen. Einer kleinen, launischen Schrägläge unseres Planeten im Verhältnis zur Sonne verdanken wir es bekanntlich, daß es am Äquator stets 12 Stunden hell und 12 Stunden dunkel ist, während die Nordkalotte im Winter gar nicht, im Sommer aber ununterbrochen von der Sonne beschienen wird. Für das Leben und Wohlbefinden von uns Erdenbürgern hat dieser Umstand Folgen. Im Winter führt der Lichtmangel bei 6-8 % der Mitteleuropäer zu ernsthaften Beschwerden und Depressionen, die unter dem Begriff SAD (Seasonal Affective Disorder oder Saisonal Abhängige Depression) zusammengefaßt werden. Zu den verbreiteten Symptomen gehören Müdigkeit und Antriebslosigkeit, Heißhunger auf Kohlenhydrate und Süßes, Konzentrationsmangel, Unruhe und sexuelle Unlust. In welchem Maße unsere Körperfunktionen vom Tag-Nacht-Rhythmus und von der Menge des aufgenommenen Lichtes beeinflußt werden, haben zahlreiche Forschungen der letzten Jahre eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Im Winter kann die Tageslichtstärke bei nur 1000 Lux liegen, an einem schönen Sommertag aber zwischen 10.000 und 100.000 Lux variieren. Lichtkuren, bei denen die Patienten über einen längeren Zeitraum täglich ein bis zwei Stunden einer Lichtquelle von z.B. 10.000 Lux ausgesetzt werden, werden gegen Winterdepressionen ebenso eingesetzt wie nach Knochenbrüchen, gegen Schuppenflechte oder auch gegen überflüssige Pfunde. Ein wichtiges Anwendungsgebiet ist auch die Behandlung von Schlafstörungen und Störungen der „inneren Uhr“ (z.B. durch Jetlag oder Schichtarbeit). Die Nächte waren hell und voll Sonne. So recht ein Wetter zum Lustwandeln und Schwärmen. Die jungen Leute zogen nachts über die Straßen, sangen und schlugen mit Weidenzweigen in die Luft.

Diese innere Uhr hat sich im Laufe des Evolutionsprozesses „eingestellt“, um eine möglichst optimale Anpassung an die unterschiedlichen Lebensbedingungen im Laufe des Tages und Jahres zu gewährleisten. Nachts war es für den Menschen am günstigsten zu Schlafen, um Energie zu sparen und sich keinen Gefahren auszusetzen. Die Körpertemperatur sinkt nachts ab, steigt mit dem Morgengrauen aber stetig wieder an; der Körper bereitet sich auf die Erfordernisse des Tages vor. Kaum eine Körperfunktion, die nicht diesem circadianen Tag-Nacht-Rhythmus unterliegt, der für uns so selbstverständlich ist, daß wir ihn höchstens wahrnehmen, wenn er durch Jetlag oder eine Nachtschicht gleichwelcher Ursache durcheinandergeraten ist. Gesteuert wird der chronobiologische Ablauf dabei weitestgehend von der Sonne in ihrem 24-Stunden – Rhythmus und eben nicht durch eine davon unabhängige „innere“ Uhr. Wer sich künstlichen Zeitmessern und dem Sonnenlicht gleichermaßen entzieht, dessen Körperrythmus pendelt sich auf bis zu 50 h ein. Zwischen Aufstehen und Frühstück vergehen dann leicht 6 Stunden, die man subjektiv vielleicht als halbe Stunde wahrnimmt. Und von allen Inseln und Schären hörte man die Schreie der Lummen und Austernfischer, der Möwen und Eidergänse. Und der Seehund steckte seinen triefnassen Kopf aus dem Wasser, sah sich um und tauchte wieder zurück in seine Welt. Eine wichtige Schlüsselfunktion kommt physiologisch dabei dem in der Zirbeldrüse gebildeten Hormon Melatonin zu, dessen Ausschüttung durch Dunkelheit angeregt und durch Licht unterdrückt wird. Bei Tieren ist Melatonin in Abhängigkeit von der Tageslänge für die saisonale Umstellung und den Zeitpunkt der Geschlechtsreife zuständig (Menschen unterliegen in puncto Geschlechstrieb ja bekanntlich keinen jahres- oder tageszeitlichenEinschränkungen, wohl aber deutlichen saisonalen Schwankungen). Melatonin wirkt schlaffördernd und stimmungsdrückend. Die Gleichung viel Licht = wenig Melatonin ist also eine mögliche Erklärung für die durch die permanente Lichteinstrahlung im nordskandinavischen Sommer ausgelöste euphorische Stimmung und das geringe Schlafbedürfnis. Einige Nordskandinavier, die dann doch gerne mal einschlafen möchten, schwören daher tatsächlich auf die Einnahme synthetischen Melatonins! Den Hedonisten unter unseren Lesern möchten wir allerdings davon abraten, nicht zuletzt weil manche Forscher einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der abnehmenden Melatoninproduktion während der langen Tage und gesteigerter sexueller Erregbarkeit sehen. Bereits 1897 notierte der Forscher F.A. Cook über die grönländischen Inuit hierzu recht eindrückliche Beobachtungen: „Kurze Zeit nach Rückkehr der Sonne werden sie von einem regelrechten sexuellen Rausch erfaßt. Er kommt mit solcher Gewalt und so plötzlich über sie, daß sie häufig tagelang vor Leidenschaft beben. Das Ganze gipfelt während der ersten Sommertage geradezu in einer Orgie der Fleischeslust, bei der aus Dankbarkeit und in guter Absicht häufig auch Ehepartner ausgetauscht werden“. Auch wenn der soziale Zwang zur Synchronisation von Schul- und Erwerbs-Arbeitszeit vor dem Norden nicht halt gemacht hat: Die Uhren gehen im Nordlandsommer tatsächlich auch heute spürbar anders. Für einen Nordschweden ist es völlig normal, nachts um zwei seinen Rasen zu mähen oder sein Häuschen frisch anzustreichen. Das Schlafbedürfnis sinkt bei den meisten dramatisch ab, man fühlt sich voller Energie und Lebensfreude. Knut Hamsun hat diese Stimmung in seinen wunderbaren Nordlandromanen immer wieder beschworen und die eigentümliche Ver-rücktheit der Menschen zur Mittsommerzeit, ihre rauschhafte Lebens- und Liebeslust, ihre Schwärmerei beschrieben und unsterblich gemacht.

Es ist eigentlich erstaunlich, daß die Fitnessgeneration, immer auf der Suche nach allem, was fit- und anmacht, den Norden noch nicht richtig entdeckt hat. Und daß die Reiseveranstalter zwar brav mit dem optischen Zauber der Mitternachtssonne werben, aber den eigentlichen Kick kaum erwähnen: wie die 24-Stunden Lichtdusche den Körper berauscht, die Sinne belebt, die Potenz steigert und den Verstand ausschaltet. Liebe Wellnessfreunde, liebe Fit-for-Fun-Fans: Euer Eldorado ist der Norden, Ihr wißt es nur noch nicht! Was soll am Ballermann schon mit Euch passieren, wo am frühen Abend die Energiequelle ausgeknipst wird? Statt https://www.youtube.com/watch?v=dkmP-eFGIYs„Red Bull“ gibt´s hier „Red Energy“ gratis vom Himmel:fit for sun heißt die Devise, denn die scheint hier bei Tag und Nacht. Eviva Norge! Liebe müdgewordene Paare, angejahrte Eheleute: Euer Jungbrunnen heißt Hammerfest, Kiruna oder Ivalo! Kann es denn ein Zufall sein, daß so viele Zugvögel die weite Reise in den Norden auf sich nehmen, nur um sich dort zu vermehren? Noch Fragen?
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Die wunderbare Erzählung "Schwärmer" von Knut Hamsun, aus der wir hier zitiert haben, wurde in den 90er Jahren unter dem Titel "Telegrafisten" sehr schön verfilmt - leider ist dieser Film momentan im Handel nicht erhältlich. Auf youtube gibt es aber einige Ausschnitte:
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