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Achillesferse Jugendarbeitslosigkeit

  • Yvonne Rogell
  • 27. Aug. 2015
  • 8 Min. Lesezeit

Fast jeder vierte Jugendliche in Schweden ist arbeitslos. Was ist zu tun? „Was machen Sie beruflich?“ – Es dauert meist nicht lang, bis diese Frage fällt, wenn wir mit einer neuen, unbekannten Person ins Gespräch kommen. Wenn es sich um eine jüngere Person handelt, lautet die Frage „Studierst du, oder was machst du gerade?“ Und auch ein Rentner kennt die Frage, was er denn früher so gemacht habe. Kein Zweifel: Die Arbeit ist zum zentralen gesellschaftlichen Identifikationssignal unserer Person geworden. Arbeit bedeutet Sinnstiftung, Anerkennung, Perspektive. Und wer keine hat, hat ein Problem, das über den finanziellen Aspekt weit hinausgeht.

Über dem EU-Durchschnitt Auch in der politischen Welt ist Arbeit immer ein großes Thema. Im wirtschaftlich eigentlich sehr erfolgreichen Schweden ist es dabei besonders ein Umstand, der die schwedischen Politiker seit Jahren nicht loslässt: die hohe Jugendarbeitslosigkeit, besonders im Vergleich mit Deutschland. Laut offizieller EU-Statistik lag die Jugendarbeitslosigkeit in Schweden 2011 mit 22,9 % über dem mit 21,4 % schon sehr hohen Durchschnitt der Union. In Deutschland dagegen waren nur 8,6 % der Jugendlichen ohne Beschäftigung. Über die Gründe der hohen Jugendarbeitslosigkeit wird in Schweden entsprechend ebenso heftig diskutiert wie über die richtigen Wege, sie zu senken. Allzu hohe Einstiegsgehälter werden genannt, so dass die Unternehmen lieber Personen mit Berufserfahrung einstellen. Und ein Versagen des berufsvorbereitenden Schulsystems wird attestiert. Auch darüber, wie das Problem gelöst werden soll, sind die Meinungen geteilt. Vorbild Deutschland In einer Pressemitteilung der Volkspartei (Folkpartiet) Anfang März diesen Jahres wurde die Einführung von so genannten “Jugendgehältern” vorgeschlagen. Jugendliche bis zum Alter von 23 Jahren sollten in Kommunen und Regionalverwaltungen etwa 75% des niedrigsten Lohnes verdienen, um so mehr von ihnen einen Job zu ermöglichen. Minister¬präsident Fredrik Reinfeldt lehnte diesen Vorschlag aber entschieden ab: „In Schweden senken wir Gehälter nicht, wir erhöhen sie“. In einem Interview mit Radio Schweden hob Finanzminister Anders Borg Deutschland als Vorbild hervor. Deutschland habe, wie auch Österreich und Holland, sehr erfolgreiche Wege für Jugendliche gefunden, um auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Ein Bereich, auf dem Schweden viel besser werden müsse, sagte er. In Deutschland werden unter anderem berufsvorbereitende Programme als einige der gelungenen Maßnahmen identifiziert. Unter Parolen wie „Abschluss und Anschluss – Bildungsketten bis zum Ausbildungsabschluss“ oder „Berufliche Bildung – Praktisch Unschlagbar“ führt die Bundesregierung Jugendliche in das Arbeitsleben ein. Doch die eigentliche Säule der Berufseinführung ist das duale Berufsbildungssystem. Es kombiniert Theorie und Praxis und bedeutet einen niedrigschwelligen Einstieg in die Arbeitswelt. Die Auszubildenden bekommen dazu eine deutlich unter den Berufseinstiegsgehältern liegende Vergütung. Laut dem Bundesinstitut für Berufsbildung verdienten die Auszubildenden 2010 im Durchschnitt monatlich 688 € in Westdeutschland bzw. 612 € in Ostdeutschland. Dafür stehen sie dem Arbeitgeber aber auch nicht täglich zur Verfügung, sondern besuchen regelmäßig auch die Berufsschule. Bisweilen scheint es sogar ein Überangebot an Ausbildungsplätzen zu geben – 2011 waren zeitweise noch 30.000 bei der Bundesagentur für Arbeit gemeldete Stellen nicht besetzt. In Schweden findet die Berufsausbildung traditionell vor allem in entsprechenden Berufsschulen statt. Doch die Sinnhaftigkeit einer Verzahnung mit der Berufspraxis wurde erkannt: 2009 wurde eine neue Berufschulbehörde etabliert und mit dem Auftrag versehen, den Arbeitsmarkt zu analysieren und dessen Kompetenzbedarf festzustellen. Diese Informationen werden genutzt um zu entscheiden, welche Ausbildungen in Berufsschulen angeboten werden und damit auch Staatszuschüsse bekommen sollen. Erik Bengtzboe, Vorsitzender der Jugendorganisation der regierenden Moderaten meint, dass die Berufsschule aus zwei Gründen eine wichtige Rolle erfüllen kann. „Erstens kann sie Jugendlichen die Kompetenz geben, um in den Arbeitsmarkt zu kommen. Zweitens kann sie den Status der praktischen Berufsausbildungen erhöhen.“ In den letzten Jahren hat denn auch die Popularität der praktischen Berufsausbildungen in Schweden zugenommen. Im Vergleich zum Deutschland gibt es gar kein Überangebot an Ausbildungsplätzen – 2010 kamen auf jede Stelle sogar vier Bewerber. Auch hier werden jetzt Theorie und Praxis kombiniert, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: nur etwa ein Drittel der Ausbildung findet im Arbeitsleben statt. Üblicherweise bekommen die Auszubildende keine Vergütung, die Ausbildungen sind aber kostenlos und berechtigen zur Ausbildungsbeihilfe. Lohnsteuerhalbierung blieb ohne Effekt Eine der Maßnahmen der schwedischen Regierung zur Senkung der Jugendarbeitslosigkeit war die Halbierung der Lohnsteuer für Personen bis zum 26. Lebensjahr. Der erwartete Effekt blieb aber aus. Erik Bengtzboe meint, dass der schwedische Arbeitsmarkt gerade mit großen Herausforderungen zu kämpfen habe und schon seit langer Zeit Probleme mit einer hohen Jugendarbeitslosigkeit gehabt habe. „Nach jeder Krise kann man sehen, dass Jugendliche hart leiden. Nach den Senkungen der Lohnsteuer konnten wir eine geringere Jugendarbeitslosigkeit sehen, aber nach der letzen Finanzkrise ist sie wieder gestiegen. Deutlich ist, dass die Kosten einen Einfluss haben. Mehrere Maßnahmen sind aber erforderlich, um mehr Jugendliche auf den Arbeitsmarkt zu bekommen.“ Bengtzboe denkt aber nicht, dass der Staat sich in die Lohnbildung einmischen soll und hält nicht viel von den Jugendgehältern. „Das Problem ist, dass wir zu viel auf Alter und zu wenig auf Kompetenz fokussieren. Kompetenz soll den Einstieg auf den Arbeitsmarkt entscheiden, nicht das Alter.“ In Deutschland, wo auch die gesamte Arbeitslosigkeit mit 5,9 % niedriger ist als in Schweden (7,5 %, beides 2011), gibt es ein weiteres Instrument, das den Einstieg in den Arbeitsmarkt erleichtern soll: die so genannten Minijobs. Als Arbeitnehmer darf man bis zu 400 € pro Monat verdienen, steuer- und sozialversicherungsfrei. Die Arbeitgeber bezahlen maximal 30,1 % an Sozialabgaben. 2003 wurde das Regelwerk der geringfügigen Beschäftigung geändert, die ehemalige maximale Arbeitszeit von 15 Stunden ist heutzutage nicht reguliert. Kritiker meinen, die Mini-Jobs tragen wegen der niedrigen Rentenbeiträge zur Altersarmut bei, die Fürsprecher dagegen betonen, die 400-€-Jobs könnten als Sprungbrett in den Arbeitsmarkt dienen. Allerdings bleibt die Tatsache, dass immer mehr Deutsche ihre Beschäftigung innerhalb der Minijobs finden – bundesweit sind 7,3 Millionen Menschen so beschäftigt und seit 2005 ist ein leichter Anstieg zu verzeichnen. In Schweden sind solche Minijobs unbekannt. Zwar dürfen die Schweden umgerechnet ca. € 2.000 pro Jahr steuerfrei verdienen, das ist aber eher für sommerarbeitende Schüler nutzbar als für dauerhafte Jobs. Erfolg durch Erfahrung – und Vitamin B Doch wie finden Schweden und Deutsche junge Menschen ihre Jobs? Viele setzen dabei in beiden Ländern zunächst auf die öffentlichen Arbeitsvermittlungen – Arbetsförmedlingen in Schweden und die Jobbörse der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland. Außerdem werden Jobportale im Internet genutzt. Doch dabei sollte man es nicht belassen, denn Untersuchungen zeigen, dass ein Großteil der Arbeitssuchenden ihre Jobs schließlich durch persönliche Kontakte findet. Das berühmte „Vitamin B“ spielt in beiden Ländern eine wichtige Rolle. Und dazu die Fähigkeit zu „Mingeln“, Netzwerke aufzubauen und Kontakte zu pflegen. Wichtig ist es, so früh wie möglich Kontakt mit dem Berufsleben aufzubauen. Immer mehr Studenten versuchen das bereits während des Studiums. Eine von ihnen ist Tove Koff-Nordlander. Als Teilnehmerin des Kurses „Exportverkäuferin für deutschsprachige Märkte“ beim Bildungsträger Folkuniversitetet in Schweden verbringt sie zurzeit die letzten Monate ihre Ausbildung in Düsseldorf, wo sie ein Praktikum bei einer Werbeagentur absolviert. Für sie ist es wichtig, einen guten theoretischen Grund kombiniert mit Vorlesungen der Branchenexperten zu haben, welcher dann mit dem praktischen Teil im Praktikum verknüpft wird. „Ich habe Marketing gelernt und natürlich gibt es Unterschiede zwischen der Ausbildung und der Wirklichkeit; es gibt immer wieder Situationen, in denen man nicht weiß, wie man sie handhaben soll“, sagt sie und berichtet weiter, dass es viel Spaß macht zu sehen, wie sich eine Idee entwickelt und wie viel Arbeit sich hinter einer Kampagne verbirgt. Fachkräfte gesucht Der Arbeitsmarkt ist aber auch für die Arbeitgeber nicht immer perfekt. Unternehmen haben Schwierigkeiten damit, geeignete Arbeitskraft zu finden. Die Rekrutierungs¬umfrage 2012 des schwedischen Arbeitgeberverbands Svenskt Näringsliv zeigt, dass die Mehrheit der Unternehmen Arbeitskräfte mit mehr als zwei Jahren Berufserfahrung vorzieht, eine Nachfrage, die den Eintritt der Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt erschwert. Auch nach diesem Bericht ist die verbreitetste Weise, neue Mitarbeiter zu gewinnen, die Nutzung informeller Kontakte. Das können Kontakte der Angestellten sein, aber auch Kontakte bei Kunden oder Konkurrenten. Es wird unter den Unternehmen auch üblicher, Initiativbewerbungen zu nutzen. Etwa die Hälfte der Unternehmen nutzt die Dienstleistungen der öffentlichen Personalvermittlung Schwedens, hier gibt es seit Jahren einen rückläufigen Trend. Zeitarbeit: Umstritten, aber erfolgreich Ein weiterer Trend, der Jugendliche besonders betrifft, ist die wachsende Bedeutung der Zeitarbeit. Seit 2002 hat sich die Beschäftigtenzahl in der Zeitarbeitsbranche in Schweden mehr als verdoppelt. Allein 2010 stieg die Anzahl um 30 %. Im Vergleich zum gesamten Arbeitsmarkt waren überdurchschnittlich viele Jugendliche in der Zeitarbeitsbranche beschäftigt, 65 % sind 34 Jahre oder jünger. Und von dieser Gruppe war die Hälfte jünger als 25 Jahre. Die Branche ist umstrittenen. Kritiker meinen, die Zeitarbeitsunternehmen trügen zu einem unsicheren Einkommen ihrer Arbeitnehmer bei und ermöglichten es Unternehmen, das Kündigungsschutzgesetz zu umgehen. Bemanningsföretagen, der Interessenverband der Schwedischen Zeitarbeitsunternehmen, hält dagegen: 80 % der Angestellten hätten eine unbefristete Anstellung und man habe Tarifverträge mit mehreren Gewerkschaftsverbänden abgeschlossen. Auch der Interessenverband Deutscher Zeitarbeitsunternehmen (iGZ) und der Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) haben Tarifverträge mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund geschlossen. Und auch in Deutschland hat sich die Zahl der Beschäftigten in der Zeitarbeitsbranche während der letzten zehn Jahre verdoppelt. Anfang des Jahres teilte die Bundesagentur für Arbeit mit, dass sich die Nachfrage von Arbeitskraft im März 2012 im Vergleich zum letzten Jahr gesteigert hat. Ein Drittel der offenen Stellen stammte aus einem Zeitarbeitsunternehmen. Laut Pontus Wiberg, Geschäftsführer von Academic Work Germany, werden ca. 35 % der von Academic Work in Zeitarbeit vermittelten Young Professionals später von den Kundenunternehmen fest angestellt. Chancen: Arbeiten im Ausland und Marktlücken Viele Jugendliche in Schweden haben längst die Chance erkannt, zunächst im Ausland Erfahrungen zu sammeln, bevor sie in Schweden in den Arbeitsmarkt einsteigen. Wer außerdem auf ein gefragtes Berufsfeld setzt und z.B. Ingenieur wird, hat ohnehin beste Karten. Die Globalisierung hat dazu beigetragen, dass Unternehmen Personal aus der ganzen Welt rekrutieren. Seit 1954 können nordische Staatsbürger frei innerhalb des Nordens arbeiten. Seit Schwedens Eintritt in die EU ist das auch für EU-Staatsbürger möglich. Für Staatsbürger außerhalb des Nordens und der EU war früher die Möglichkeit, eine Anstellung in Schweden zu bekommen, sehr begrenzt. Noch bis 2008 entschied die damalige Arbeitsmarktverwaltung, in welchem Umfang ausländische Arbeitskräfte für Schweden nötig waren. Mit den neuen Regeln dürfen aber die Unternehmen ihren ausländischen Arbeitskraftbedarf selbst entscheiden. Anfang 2012 waren Computerspezialisten, gefolgt von Restaurantpersonal die größten Gruppen, die von außerhalb der EU nach Schweden kamen. Aber auch Ingenieure, Techniker und Architekten werden immer öfter nach Schweden von außerhalb EU rekrutiert. In Deutschland wird aktuell eine große Ingenieurlücke beklagt. Laut dem Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und dem Verein Deutscher Ingenieure (VDI) werde das hohe durchschnittliche Ingenieuralter einen jährlichen Bedarf von 40.000 Ingenieuren erzeugen. Zudem fehlten aktuell im Februar 87.000 Ingenieure. Mitten in diese Debatte kam aber eine neue Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie behauptete dass es überhaupt keinen Fachkräftemangel gebe, sondern dass diese Behauptung auf einem Rechenfehler basiere und dass es zukünftig sogar ein Überangebot von Ingenieuren gegeben könnte. Zur Frankfurter Allgemeine Zeitung sagte Raimund Becker, Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit: “Wir haben in Deutschland keinen generellen Fachkräftemangel, aber für einige Ingenieurberufe gibt es bundesweite Engpässe“. Ob der Fachkräftemangel wirklich besteht oder nicht, ist also unklar. Es liegt auch an dem Interesse der Unternehmen die Kompetenz der jüngeren Generation sicherzustellen, ein groß angelegtes Ausbildungsprogramm des Volvo-Konzerns ist ein Beispiel für solche Initiativen. Die Problematik geht aber weiter als das Interesse der Unternehmen. Mit einer steigenden Alterskurve innerhalb der EU – 2025 werden 20 % älter als 65 Jahre sein – wird es eine große Herausforderung, für die Pflege und den Unterhalt der Älteren zu sorgen. Auch deshalb ist es gesellschaftlich wichtig, die Jugendlichen ins Arbeitsleben zu bekommen, mit Karrierechancen und guten Gehaltentwicklungen – nicht nur für die Lebensqualität der Jugendlichen selbst. Wegen der niedrigen Jugendarbeitslosigkeit scheint Deutschland hier in einer besseren Lage als Schweden zu sein. Yvonne Rogell, 23, absolviert zurzeit ein Praktikum in der Schweden aktuell-Redaktion. Zuvor war die Schwedin bereits für längere Zeit in den USA und in Kanada, wo sie weitere Berufserfahrung gesammelt hat. Sie hat Journalistik an der Stockholmer Universität studiert.

 
 
 

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