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Mit der Leibgarde zum Stockholmer Schloss

  • Volker Keller
  • 4. Okt. 2016
  • 7 Min. Lesezeit

Sehenswürdigkeiten erzählen die Geschichte der nordischen Länder

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs brauchten die Wachsoldaten vor dem Schloss Amalienborg keinen Schuss abzufeuern. Die Elitetruppe Livgarde musste seitdem auch nicht mehr ihr Land verteidigen – in Dänemark geht es friedlich zu wie auch in den Nachbarländern Schweden, Norwegen und Finnland. Das war mal anders: Die vier Hauptstädte der nordischen Länder offenbaren ihre gemeinsame blutige Geschichte auf einem Stadtrundgang durch ihre Sehenswürdigkeiten. Bei Begegnungen verbergen die Bewohner ihren Stolz nicht, dass ihr Militär heute allenfalls im Rahmen von UN-Missionen in Afghanistan oder Mali Gewalt ausübt, sie drücken aber neuerdings auch ihre Besorgnis aus – über Russland.

Dänischer Soldat beim Wachwechsel in Kopenhagen

Die dänische Königin Margarethe I. regierte im 14. Jahrhundert eine Großmacht an der Ostsee. Sie zwang die Nachbarländer Schweden und Norwegen in die Kalmarer Union und dominierte sie. Ihr späterer Nachfolger auf dem Thron, Christian 4., konnte im 17. Jahrhundert auf eine volle Staatskasse zurückgreifen und investierte in großzügige Bauten. Seine neue Residenz in Kopenhagen, das Rosenborg Schloss, ließ er mit mehreren schlanken Türmen und unterschiedlichen Giebeln verspielt erscheinen. Christian 4. verwirklichte sich auch gleich noch mit einem weiteren Viertel Kopenhagens, Christianshavn. Das heutige Museumsschloss Rosenborg erfährt in dieser Zeit besondere Aufmerksamkeit, wenn die Livgarde, gegründet zum Schutz von König und Volk, die nahegelegenen Kasernen verlässt und sich durch die Stadt zum Wachwechsel vor dem Schloss Amalienborg von Königin Margarethe 2. aufmacht. 2008 feierte Kopenhagen das 350-jährige Jubiläum der Truppe mit den Bärenfellmützen und erinnerte sich an den Anlass der Gründung und die schlimmen Jahre 1658/59 - Schweden belagerte die Stadt. Schon 1523 trat Schwedenkönig Gustav Vasa aus der Kalmarer Union aus und eröffnete damit eine Epoche der dauernden Kriege beider Länder. Die Dänen konnten zwar die Erstürmung der Stadt verhindern, nicht aber das Erstarken des Nachbarn Schweden zur neuen Großmacht am Baltischen Meer.

Die modernen Dänen kommentieren ihre kriegerische Geschichte lakonisch: „Warum die Kriege? Aus Gewohnheit!“ In Christianshavn betreiben Hippies seit 1971 Rüstungskonversion: Sie besetzten ein leeres Militärgelände und gründeten die „Freistadt Christiana“. Die autonome Gemeinde soll ein Ort sein, „wo Friedenssuchende über Liebe und Harmonie meditieren können.“

Mit Schweden verbindet Dänemark neben der EU-Mitgliedschaft und der Öresundbrücke seit 2015 eine als historisch bezeichnete Vereinbarung über militärische Kooperation bis hin zu Operationen im Luftraum und in den Gewässern des Nachbarlandes. Beide Länder reagierten damit auf vermehrte Aktivitäten der russischen Marine in der Ostsee. Im Unterschied zu Schweden gehört Dänemark der Nato an und beteiligt sich an demonstrativen Marine-Übungen im Baltikum.

Parade der Leibgarde zum Schloss in Stockholm

Die vergnügte Leibgarde

Neutralität kennzeichnete die Außenpolitik der nordischen Länder in den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts und im Kalten Krieg. Schweden ist gut damit gefahren und blickt auf 200 Jahre Geschichte ohne Krieg in seinem Land zurück.

Auch Stockholm bietet ein militärisch-schauspielerisches Spektakel. Täglich marschiert die königliche Leibgarde auf dem Exerzierplatz des Armeemuseums auf und zieht los zur Stadtinsel Stadsholmen zum königlichen Schloss – begleitet von Touristen aus aller Welt. Vorweg paradiert das Musikcorps und spielt flott auf. Auf dem Schlossplatz folgt eine perfekte Choreographie zum Schwenken der schwedischen Drei-Kronen-Fahnen. Erklärungen werden auf Schwedisch und Englisch über Lautsprecher gegeben.

Entspannte Rekruten in Gamla Stan/Stockholm

Nach der Aufführung sieht man junge Soldaten in der Altstadt Eis essen. Grimmiger Ernst war gestern. Ein schwedischer Zuschauer beschreibt die Einstellung seines Volkes zu Bedrohung durch Krieg: „Niemand erinnert sich mehr an Krieg. Schwedens letzter ist ein Fall für`s Museum. Das ist bei uns anders als bei euch in Deutschland.“

Im März 2013 fehlte dem friedensgewohnten Land dann auch die Fähigkeit, auf eine Provokation angemessen zu reagieren. Russische Kampfjets drangen in den schwedischen Luftraum ein und simulierten einen Angriff auf Stockholm. Schwedische Kampfflugzeuge konnten nicht aufsteigen – sie waren nicht einsatzbereit. Aufgeschreckt fragen Politiker heute, ob Schweden zum Beispiel seine entmilitarisierte Insel Gotland verteidigen könnte. Natomitglied will man nach wie vor nicht werden, aber hält an der 1994 eingegangenen Partnerschaft mit der Nato fest und nimmt an Kampfeinsätzen in Krisengebieten teil.

Zurück zur musikalischen Leibgarde: Seit 1521, zur Zeit der Unabhängigkeitskriege gegen Dänemark, schützte sie König Gustav 1. Vasa. Dessen Vater wurde auf dem Stortorget, dem Marktplatz in der Altstadt Gamla Stan, mit 79 weiteren Adligen und Bischöfen Schwedens vom dänischen König Christian 2. geköpft. Christian weilte 1520 in der Stadt, um sich zum schwedischen König krönen zu lassen. Daraus wurde nichts. Drei Jahre später feierte Schweden seine Unabhängigkeit. Das rote Haus mit der Nummer 20 hält die Erinnerung an das Massaker wach: Die weißen Steine symbolisieren die Getöteten, das Rot steht für ihr Blut.

Der Stortorget in Stockholm: Das Rote Haus

Nicht nur auf dem Markt präsentiert das Land seine kriegerische Geschichte – auch im Vasamuseum auf der Stockholmer Insel Djurgaden. Dort wird das vom Hafengrund geborgene Kriegsschiff Vasa ausgestellt. 1628 sank es gleich zu Beginn seiner Jungfernfahrt. Mit einer Kanonenbootpolitik verfolgte König Gustav 2. Adolf seine Großmacht-Interessen – und übertrieb: Er überfrachtete das Schiff mit 64 Rohren auf zwei Kanonendecks. Ein weiteres Relikt der Kriegszeit liegt im Schärengarten vor der Stadt – die Festung Vaxholm. Schutzmauern umgeben einen runden Wehrturm. Die Festung war Teil einer Verteidigungslinie und schützte die Stadt 1612 vor einem dänischen Angriff und 100 Jahre später sogar vor Kriegsschiffen von Zar Peter des Großen. Als Großmacht übte Schweden seine militärische Herrschaft im gesamten Raum der Ostsee aus, dazu auf dem Baltikum und zum Teil in Norddeutschland, es kontrollierte den Handel. König Karls 12. „Kriegsbesessenheit“ führte zur Invasion in Russland, die Niederlage 1709 im Großen Nordischen Krieg stoppte ihn, Gebietsverluste beendeten den schwedischen Größenwahn. Im russisch-schwedischen Krieg 1808/09 gingen dann auch noch Finnland und die Alandinseln verloren. Die Schweden hatten genug vom Krieg.

Åland soll niemand gehören

Aland entmillitarisiert

Die Alandinseln liegen vor der schwedischen Schärenküste. Zwar sprechen die Einheimischen schwedisch und fahren zum Einkaufen nach Stockholm, sie gehören aber völkerrechtlich zu Finnland. Wer mit einer der großen Ostseefähren in der Hauptstadt Mariehamm eintrifft, steht vor einem Schild mit der Flagge Alands und erfährt den politischen Status: Autonom und demilitarisiert. Aufgrund der militärisch begehrenswerten Lage und des „Interesses“ aller Nachbarn, traf der Völkerbund 1921 die weise Entscheidung: Aland soll niemandem gehören!

Finnland teilt mit Russland eine Grenze. Das bevölkerungsarme Land samt Åland könne in einem Tag vom großen Nachbarn besetzt werden, drückt die Aufsicht in der Kirche von Mariehammer ihre Besorgnis aus. „Viele Finnen trauen den Russen nicht“, fügt sie hinzu und wundert sich über die „Naivität“ der Schweden. Pragmatisch geht Finnland mit der geopolitischen Lage um: Russland darf nicht provoziert werden, eine Natomitgliedschaft aber würde die guten Beziehungen belasten, also bleibt man draußen.

Bromarsund auf Aland

Auf Åland findet kein Wachwechsel statt, es gibt keine Wehrpflicht, keine Monarchie - für Finnen stellen Königshäuser Symbole großer politischer Geschichte dar, man selbst war nur immer wieder Spielball der Großen. Aber ein Ausflug zu einer Festung lässt sich doch unternehmen. Russland baute sie in Bomarsund nach der Inbesitznahme Ålands. Schweden und Briten empfanden die Präsenz russischen Militärs als bedrohlich und zerstörten die Anlage wieder, lediglich ein Rest dient heute als Sehenswürdigkeit.

Besucher sprechen häufig russisch. Nein, die eigentlichen „Sehenswürdigkeiten“ Finnlands sind andere: die vielen kleinen Räume der Stille und des Friedens – die Saunen. Ein Holzhaus am Meer ohne Sauna und Steg ins kalte Wasser wäre unvollständig. Ein Finne gibt gerne Einblicke in seine Kultur. „Bevor ein Finne ein Haus baut, baut er eine Sauna.“ – „Was ist so gut am Saunieren?“ – „Man grübelt nicht über Probleme, sondern denkt einfach an nichts. Hinterher ist man ruhig und klar im Kopf, ganz friedvoll.“ Darüber hinaus weiß Torsten, der Holzhaus- und Saunavermieter, schöne Geschichten von Verständigung und Ausgleich zu erzählen: „Der finnische Präsident Urho Kekkonen traf sich während des Kalten Krieges mit den russischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow und Leonid Breschnew in der Sauna. Dort hat er Finnlands Unabhängigkeit gesichert und für die Wirtschaft viel rausgeholt“. Und noch diese: „Auf ihre UN-Friedensmissionen gehen finnische Blauhelme nicht ohne ihre Saunen aus der Heimat – vielleicht sind sie ja dadurch so erfolgreiche Mediatoren.“

Finnen sehen sich als stille und in sich gekehrte Menschen - anders als die redefreudigen Schweden. Ihre belastende Geschichte als schwaches Volk zwischen Großmächten hat Spuren hinterlassen. Nicht anders erging es dem anderen Kleinen am Rande – Norwegen.

Proteste im Eidsvoll Park

Die ältesten Mauern der Festung Akershus in Oslo stammen noch vom norwegischen König Hakon 5. aus der Zeit norwegischer Unabhängigkeit. Doch auch in Norwegen übernahmen die Dänen die Herrschaft: Christian 4. nannte Oslo in Christiania um und machte die Festung zu seinem Schloss.

Die politische Geschichte begegnet in der Karl-Johans-Gate, dem Prunkboulevard, der Flaniermeile zwischen Schloss und Bahnhof. Nach dem Ende der Herrschaft Napoleons verloren seine Verbündeten, die Dänen, 1815 ihre Kolonie Norwegen an Schweden. Die Norweger protestierten gegen ihre Unterdrückung durch die neue Großmacht und beriefen aus Protest eine Nationalversammlung in Eidsvoll ein. Sie verabschiedeten dort die erste demokratische Verfassung und demonstrierten ihren Willen zur Unabhängigkeit. Nach einem kurzen Krieg gewährte der schwedische König Karl Johan Norwegen weitreichende Autonomie in einer Union mit Schweden. Der Eidsvoll Park vor dem Parlament Storting erinnert an diese Zeit und an das Jahr 1905. Der Park wurde zur politischen Bühne: Nationalistische Redner forderten die volle Selbständigkeit Norwegens und wurden vom Volk bejubelt. Schweden zog ab – ohne dass ein Schuss gefallen war.

Die großen Intellektuellen Norwegens hielten im Park ihre Freiheitsreden und gingen anschließend ins nahe Cafe des Grand Hotels. Die Angestellten zeigen heute noch ihren Stolz über die Gästeliste vergangener Zeiten. Zum Beispiel über Björnstjerne Björnson, den Dichter der Nationalhymne: „Ja, wir lieben dieses Land!“ Der Kellner im schwarzen Anzug schüttelt den Kopf über die dänische Herrschaft: „Wir mussten Dänisch sprechen.“ Er bewundert sein Volk, das nie seine eigene Kultur aufgegeben hat – auch nach Jahrhundert Fremdherrschaft nicht. Norwegen brauche keine Mitgliedschaft in der Europäischen Union, aber in der Nato, spricht er das Sicherheitsbedürfnis seines Landes an. Seit der russischen Krimannexion erhöht Norwegen seine Militärausgaben. In der für die Verteidigung als bedeutsam angesehenen Arktis verstärkt die Regierung die militärische Präsenz.

Verunsicherung führt die nordischen Länder in engere Kooperation miteinander und mit den europäischen Institutionen. Man wisse nicht, was Russland vorhabe, so drücken Skandinavier ihre Gefühlslage aus.

Der Weg nach St. Petersburg ist nicht weit. Was bewegt die Menschen dort? Auf dem St. Petersburger Gedenkfriedhof Piskarjowskoje wird einer halben Million Toter gedacht - Opfer der Leningrader Blockade durch die deutsche Wehrmacht. Mein Taxifahrer warnt: „Don`t touch Russia!“ und erinnert an die Einmärsche der Schweden, Franzosen und Deutschen. Auch in Russland spürt man Unsicherheit – durch die Nato, die immer mehr Truppen an der russischen Grenze stationiert. Was hat der Westen vor?

Die Regierungschefs sollten einmal gemeinsam in die Sauna gehen…

Text & Foto: Volker Keller

 
 
 

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